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Was ist eine Art und was ist eine Rasse?

Allgemeine Bemerkungen zum Begriff der "Klasse", der "natural kind" und der realen Existenz von Arten und Rassen:

 

Deutschlandfunk: Wissenschaft im Brennpunkt über den Artbegriff: "Über Schubladen: Biologen kämpfen mit dem Artbegriff"

[Sendung am 8.9.2013; Interview mit Prof. Kunz]

 

Arten wurden von Aristoteles bis Linné für feste Einheiten gehalten. Feste Einheiten sind Klassen, so wie die chemischen Elemente, die in der Natur so vorliegen, wie sie erschaffen wurden. Klassen bedeutet auch "natural kinds“. „Natural kinds“ sind durch mindestens ein essentielles Merkmal definiert. Jedes Mitglied einer „natural kind“ muss dieses Merkmal besitzen. Ein Klassen-Mitglied, das dieses Merkmal verliert, kann nicht mehr zu dieser Klasse gehören. Ein Beispiel für "natural kinds" sind die chemischen Elemente. So ist z. B. Platin durch die Protonenzahl 78 definiert. Verliert Platin ein Proton, dann ist es kein Platin mehr.

Seit Darwin weiß man, dass Arten evolvieren. Also können Arten keine Klassen sein, keine "natural kinds". Dies würde der Evolutionstheorie widersprechen. Das unterscheidet die chemischen Elemente grundsätzlich von den biologischen Arten. Ein adultes Rotkehlchen besitzt eine rote Kehle. Dieses Merkmal ist jedoch nicht essentiell, denn wenn ein Rotkehlchen die rote Kehle durch eine Mutation verliert, dann gehört dieses mutierte Individuum immer noch zur Gruppe der Rotkehlchen.

„Natural kinds“ sind universal, d. h. sie sind (in unserem gegenwärtigen Weltall) weder an eine Zeit noch an einen Raum gebunden. Arten und Rassen "existieren" dagegen einmalig zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten. Der amerikanische Zoologe und Philosoph Ghiselin hat daraus geschlossen, dass Arten „Individuen“ sind; denn Individuen sind dadurch definiert, dass sie nur einmal in der Welt auftreten: Sie sind einmal entstanden sind und werden einmal wieder aussterben. Da Arten also veränderliche Individuen sind, steht der praktizierende Taxonom vor dem Problem, was an den veränderlichen Organismen er denn eigentlich festhalten und klassifizieren soll. Dieses Dilemma nennt man „das Artproblem“, das bis heute nicht gelöst ist.

Da Arten keine "natural kinds" sind, wird daraus oft der Schluss gezogen, dass es Arten in der Natur überhaupt nicht gibt, sondern dass das, was wir für Arten halten, nichts weiter als unsere eigenen Konzeptbildungen seien, weil wir das Bedürfnis haben, die Biodiversität zu ordnen und zu klassifizieren. Aber das ist das alte philosophische Problem abstrakter Gruppenbegriffe, das sich von Platon über den mittelalterlichen Universalienstreit bis heute hinzieht. Was sind die geistigen Extrakte, die wir aus der Fülle der Dinge und Abläufe aus der real zu beobachtenden Welt ziehen? Auch Zahlen oder Gleichungen sind keine real in der Natur existierenden Dinge, die man sehen, hören oder fühlen kann. Trotzdem braucht man Zahlen und Gleichungen, um Fortschritte und Vorhersagen im Alltag und in der Wissenschaft machen zu können, und niemand würde sagen: „Gleichungen gibt es nicht“, so wie in der Taxonomie oft gesagt wird: „Arten gibt es nicht“.

Existenz heißt: das Ding existiert außerhalb unserer Begriffsbildung („out there“); der Gegensatz ist „mentales Konstrukt“. Aber: Beweisführungen und Vorhersagen in der Wissenschaft (= das was in der Wissenschaft zielführend und wahr ist) basieren nicht nur auf real existierenden Dingen. Existieren Zahlen „out there“; existiert eine zweidimensionale Ebene „out there“? Auch die Mathematik arbeitet nicht mit Realitäten. Dennoch arbeitet die Mathematik mit „Entdeckungen“, keineswegs mit „Erfindungen“.

Siehe p. 263/64 in Oeser et al. 1988:

„Wir verstehen die Welt mit Begriffen, ohne dass diese Begriffe selbst real sind. Jedoch: diese Begriffe korrespondieren mit der Welt in einer Weise, die es unserem Verstand ermöglicht, Zustände der Welt zutreffend zu prognostizieren. Es ist aber die Art unseres Verstandes.“

[Oeser, E.; Bonet, M. (1988): Das Realismusproblem. Wiener Studien zur Wissenschaftstheorie, Band 2. Wien: Edition S Verlag der Österreichischen Staatsdruckerei].

Gleichungen wie Taxa werden (oft nach vielen Fehlversuchen) in der Natur entdeckt und erweisen sich erst dann als „tauglich“, wenn man mit ihnen Voraussagen über Prozesse in der Natur machen kann. Gleichungen wie Taxa sind also keineswegs willkürliche „Erfindungen“ des Menschen. Die Auffassung, Taxa seien willkürlich, stellt sowohl den Artenschutz (die Roten Listen) als auch die Artbestimmung (was ist das, was in den Bestimmungsbüchern steht?) vor ein nicht unerhebliches Problem. Was wollen wir eigentlich schützen und was bestimmen wir eigentlich?

Arten (und auch Rassen) haben eine gewissen Form von "Halb-Realität", d.h.: die Kriterien des Zusammenhalts bzw. der Trennung sind real vorhanden, aber die Gruppenbildung auf der Basis dieser Kriterien wird von uns selbst gemacht (Reydon, T. A. C.; Kunz, W. (2019): Species as natural entities, instrumental units and ranked taxa: new perspectives on the grouping and ranking problems. Biological Journal of the Linnean Society 126, S. 623–636). Eine Amsel existiert als Individuum, aber das Taxon „Amsel“ ist nur "semi-real". Niemand hat je das Taxon „Amsel“ gesehen.

 

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Es ist erstaunlich, dass die praktizierende Taxonomie diese Probleme heute weitgehend ignoriert. Die Taxonomie als Wissenschaft ist besonders im heutigen Deutschland bemerkenswert uninteressiert an den theoretischen Fragen, die hinter der Taxondefinition und den Grundlagen stehen, wie Gruppen und Klassen gebildet werden. Statt Gruppenbildung geht es meist allein um genetische Distanz.

Dazu gibt es eine bezeichnende Kritik:

„Taxonomy as a discipline is often surprisingly ignorant of theoretical issues behind species definitions and the process of speciation”

[S. 122 in: Misof, B.; Klütsch, C. F. C.; Niehuis, O.; Patt, A. (2005): Of phenotypes and genotypes: Two sides of one coin in taxonomy? In: Bonner Zoologische Beiträge 53, S. 121–133].

 

Und der amerikanische Bio-Philosoph David Hull (1935 – 2010) hat 1970 gewarnt:

„We must resist at all costs the tendency to superimpose a false simplicity on the exterior of science to hide incompletely formulated theoretical foundations”

[zitiert in: Mishler, B. D.; Donoghue, M. J. (1994): Species concepts: a case for pluralism. In: E. Sober (Hg.): Conceptual issues in evolutionary biology. Cambridge /Mass.: Mass.Inst.of Technology, S. 217–232].

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Was ist eine Art?:

 

Was man empirisch feststellt, ist dass die Organismen in ihren Eigenschaften nicht gleichmäßig verteilt sind. Die Biodiversität ist kein Kontinuum. Die Organismen liegen in Gruppen vor. Die Organismen werden durch ihre Eigenschaften (Merkmale, Verwandtschaft etc.) zu Gruppen zusammengehalten bzw. getrennt. Das sind Arten.

Jedoch gibt es ganz unterschiedliche Faktoren, nach denen in der Natur die Individuen zu Gruppen zusammenhalten werden. Daher gibt es in der Natur auch nicht „DIE ART“, sondern es kommt ganz darauf an, welche Faktoren des Gruppenzusammenhalts man betrachtet. „Art“ ist nicht gleich „Art“ (Reydon, T. A. C. (2005): On the nature of the species problem and the four meanings of 'species'. In: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 36 (1), S. 135–158). Arten können:

(1) synchron in der Zeit über Reproduktion miteinander verbundene Individuen sein (Reproduktionsgemeinschaften), aber es können auch

(2) diachron entlang des Zeitverlaufs miteinander verbundene Individuen sein, die wegen Entstehung eines evolutionär bedeutsamen Merkmals einen eigenen phylogenetischen Zweig bilden (phylogenetische Art), oder es sind

(3) diachrone Verwandtschaftsgruppen, verbunden über Fortpflanzungslinien und definiert nach den Grad ihrer Verwandtschaft (genealogische Art).

Arten können aber (je nach dem Faktor des Zusammenhalts der Individuen) auch noch ganz andere Gruppen sein.

Arten sind nicht EINE Einheit in der Natur, sondern es sind ontologisch unterschiedliche Einheiten, je nach Betrachtungsweise. Der Begriff „Art“ ist ein homonym verwendetes Wort für unterschiedliche Einheiten. Allerdings überschneiden sich die verschiedenen „Art-Typen“ oft weitgehend. Das bedeutet in vielen Fällen, dass wenn zwei Individuen zur gleichen Reproduktionsgemeinschaft gehören, dann gehören sie auch zur gleichen phylogenetischen Art. Aber das muss nicht so sein: Es gibt auch Fälle, wo z.B. zwei Gruppen nahe miteinander verwandt sind (also zu ein und derselben Verwandtschaftsgruppe gehören), aber in ihren phylogenetisch bedeutsamen Merkmalen weit voneinander divergieren und daher zwei verschiedene phylogenetische Arten sind.

Reydon, T. A. C.; Kunz, W. (2019): Species as natural entities, instrumental units and ranked taxa: new perspectives on the grouping and ranking problems. In: Biological Journal of the Linnean Society 126, S. 623–636.

Selbstverständlich kann die praktizierende Taxonomie nicht mit multipel definierten Arten leben. Man brauchte dann für jede Organismengruppe (Vögel, Schmetterlinge usw.) mehrere Bestimmungsbücher. Daher arbeitet die Taxonomie in der Praxis entweder mit nur einem einzigen Typ von Art (z.B. hat Ernst Mayr nur die Reproduktionsgemeinschaft anerkannt, und die moderne Taxonomie beschränkt sich meist nur auf den Artbegriff der Verwandtschaftsnähe), oder es werden mehrere Faktoren des Zusammenhalts der Organismen zu einer künstlichen Einheit integriert, wobei subjektiv entschieden wird, welche der Zusammenhaltseigenschaften letztendlich für die Artabgrenzung entscheidet. Das ist die „integrative Art“. Integrative Arten sind naturnahe Kunstprodukte.

Damit lebt die Taxonomie also mit einer Unvereinbarkeit der Art als ein theoretisch konsequenter Begriff auf der einen Seite und mit der Art als ein instrumentaler Begriff für die praktische Anwendung auf der anderen Seite. Dazu sagt der amerikanische Bio-Philosoph David Hull:

„The more theoretically significant a concept [of species] is, the more difficult it is to apply”

(Hull, D. L. (1997): The ideal species concept - and why we can’t get it. In: M. F. Claridge, H. A. Dawah und M.R. Wilson (Hg.): Species: the units of biodiversity, Bd. 1. London: Chapman & Hall, S. 357–380).


 

Was ist eine Rasse?:

 

Das Thema Rasse wird aus ideologischen und sozialen Bedürfnissen in ein verfälschtes Licht gerückt. Es besteht die Gefahr, dass dominierende Ideologien und Gesinnungen die Freiheit der Wissenschaft gefährden. Anstatt aufzuklären, was eine Rasse ist, wird versucht, die Existenz von Rassen abzustreiten.

Die Zoologie teilt fast alle Arten in Rassen ein. Allein bei den Vögeln gibt es Rassen in höherer 6stelliger Zahl. Nur evolutionär ganz neu entstandene Arten und auf einen kleinen geografischen Raum beschränkte endemischen Arten haben keine Rassen. Alle weltweit verbreiteten Arten lassen sich in Rassen untergliedern.

Die Grundbegriffe dessen, was eine Rasse ist, wurden im vorigen Jahrhundert durch den Zoologen Rensch, den Genetiker Dobzhansky und den Taxonomen Mayr festgelegt. Rassen sind grundsätzlich Unterteilungen der Arten. Wenn eine neue Rasse entdeckt wird, dann ist die Art immer schon bekannt.

Rassen sind „halb-unabhängige“ (d.h. unvollständig dichotome) evolvierende Zweige im Stammbaum, die als Zweige aufgrund der Neuentwicklung (Apomorphien) adaptiver Merkmale erkannt und definiert sind:

Kunz, W. (2021): Immer wieder missverstanden - Die Unterteilung von Arten in Rassen. In: Biologie in unserer Zeit 51 (2), S. 168–178.

Reydon, T. A. C.; Kunz, W. (2021): Classification below the species level: When are infraspecific groups biologically meaningful? In: Biological Journal of the Linnean Society 134 (1), 246-260. DOI: 10.1093/biolinnean/blab067.

Rassen unterscheiden sich meist nur durch sehr wenige Merkmale voneinander, die Anpassungen an die örtlichen Lebensbedingungen sind, unter denen sich die Rassen entwickelt haben. Rassen unterscheiden sich kaum in den generellen DNA-Sequenzen ihrer Genome. Rassenunterschiede sind also nicht in den DNA-Sequenzen zu suchen, die neutral sind oder die mit örtlichen Anpassungen nichts zu tun haben.

Die Ursache, warum sich unterschiedliche Merkmale in unterschiedlichen Rassen entwickeln und weitgehend auch fixieren konnten, liegt ausschließlich in der geografischen Distanz, die einen sexuellen Austausch zwischen den Angehörigen verschiedener Rassen gering hält. Paarungsbarrieren gibt es nur in ganz schwachem Ausmaß. Wenn die Paarungsbarrieren stärker werden, dann handelt es sich um Arten. Die Folge der fehlenden Paarungsbarrieren ist, dass in den Zonen, in denen verschiedene Rassen aufeinanderstoßen, Organismen leben, die keiner Rasse zuzuordnen sind (klinale Übergänge zwischen den Rassen).

 

Es ist eine falsche Annahme, dass Rassen ein gleichmäßiges geografisch verteiltes kontinuierliches Gemisch aus Individuen mit Merkmalsunterschieden seien. Um Rassen zu definieren, werden Merkmals(un)ähnlichkeiten zwischen Populationen bewertet, nicht zwischen einzelnen Organismen:

Mayr, E. (1963): Animal species and evolution. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.

Verantwortlichkeit: